“Asoziale” in den Konzentrationslagern
Eine Geschichte der Diskriminierung bis in die Gegenwart
Von Rebecca Hillauer
NZZ Nr. 38/2003, S. 77

Bei der Debatte um die Entschädigung für ehemalige Zwangsarbeiter lag der Fokus bei den ehemaligen jüdischen Häftlingen und bei denen aus Osteuropa. Vergessen wurde eine andere grosse Gruppe von Verfolgten: die sogenannten “Asozialen”.
Im KZ trugen sie den schwarzen Winkel. Das Zeichen für die sogenannten “asozialen” Häftlinge: Obdachlose, Bettler, Landstreicher, Prostituierte, Arbeits- und Dienstverweigerer, Alkoholiker, Tuberkulosekranke. Eine eindeutige juristische Klassifikation gab es nicht. “Asozial” wurde im Dritten Reich zum Sammelbegriff für all diejenigen, die im sozialen Abseits lebten und nicht in das nationalsozialistische Bild des “reinen Volkskörpers” passten.
Der Begriff “asozial” wurde bereits vor der Machtübernahme Hitlers geprägt. Dabei ging es ursprünglich um Menschen, die im 19. Jahrhundert unter die Armenverwaltung fielen. Mit der Herausbildung eines Sozialsystems und einer Sozialpolitik wurde der Begriff “asozial” gebräuchlich.
Im Jargon der Nationalsozialisten hiess das auch “gemeinschaftsfremd”. Zu Kriegsbeginn waren 20’000 Menschen in Konzentrationslagern inhaftiert, mehr als die Hälfte davon “Asoziale”. Trotz der erlittenen Verfolgung haben die meisten von ihnen bis heute keine Entschädigung erhalten.

Präventivhaft für “Asoziale”
Die juristische Grundlage für die Einlieferung von “Asozialen” ins KZ bildete der “Erlass über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei” vom 14. Dezember 1937. Ein Rundschreiben des Reichskriminalpolizeiamtes in Berlin präzisierte wenig später, dass auch jene Personen als “Asoziale” inhaftiert werden sollten, “die zwar vielleicht noch nicht erwiesenermassen kriminell in Erscheinung getreten” seien, “aber erfahrungsgemäss Verbrecher werden” könnten.
Die NS-Rassehygieniker definierten abweichendes Verhalten als “erblich bedingtes soziales Versagen” und sprachen vom “angeborenen moralischen Schwachsinn”. Mit dieser Diagnose wurden unzählige Zwangssterilisationen begründet.
Die gesellschaftliche Ausgrenzung der “Asozialen” dauerte nach Kriegsende fort. Sogar die Verbände der anderen Verfolgtengruppen grenzten sich von ihnen ab. In beiden Teilen Deutschlands gehörten “Asoziale” bis Mitte der achtziger Jahre nicht zum Kreis der gesetzlich anerkannten NS-Verfolgten. Nach dem in der BRD gültigen Bundesentschädigungsgesetz (BEG) von 1965 wurde als NS-Verfolgte(r) nur anerkannt, wer “aus Gründen der politischen Gegnerschaft, der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung” verfolgt worden war. In der DDR gab es die Rente für Verfolgte des Naziregimes, die sogenannte “VdN-Rente”. Sie war für aktive “Kämpfer gegen den Faschismus” höher als für nur passive “Opfer”. Und sie war an eine staatskonforme Haltung gegenüber der DDR gekoppelt. Bis heute gehören die “Asozialen” zu den vergessenen Opfern. Auch die sogenannte “Erinnerungsliteratur” ist geprägt von Autoren aus dem Kreis der politischen und der jüdischen Häftlinge.

Vergessene Opfer
Zwar beschlossen SPD und Grüne in ihren Koalitionsvereinbarungen von 1998 die Einrichtung zweier Bundesstiftungen für NS-Verfolgte. Verwirklicht wurde bisher aber nur eine – die für ehemalige Zwangsarbeiter. Von einer grossen Bundesstiftung “Vergessene Opfer” ist keine Rede mehr. Der Bundesverband Information und Beratung von NS-Verfolgten in Köln fordert eine solche Stiftung seit Jahren. Geschäftsführer Lothar Evers hält die bestehenden Regelungen für nicht geeignet. Lediglich über die nicht gesetzlich verankerten Härtefonds des Bundes und einzelner Bundesländer konnten “Asoziale” bisher eine Entschädigung – eine einmalige Zahlung oder eine Versorgungsrente – bekommen. Seit September 2002 gilt eine neue Regelung, wonach nicht nur diejenigen NS-Verfolgten, die in finanziellen Notlagen leben, eine Entschädigung bekommen. Für einmalige Zahlungen wurde die Einkommensgrenze aufgehoben.
Gemäss einer Studie lebten zwei Drittel der “Asozialen” zum Zeitpunkt der Antragstellung von Sozialhilfe beziehungsweise an der untersten Einkommensgrenze. Dennoch übersteigt die Ablehnungsquote die Bewilligungen bei weitem. Dies liegt vor allem daran, dass die Beweispflicht bei den Antragstellern liegt und dass es ihnen oft nicht mehr gelingt, ihre Verfolgung und den Aufenthalt im KZ ausreichend nachzuweisen.

Viele noch heute an der Armutsgrenze
Zu den wenigen “Asozialen”, die auf dem Gerichtsweg eine Entschädigung erstritten, gehört Elisabeth Bahadir. 1998 erhielt die damals 78jährige aufgrund ihrer finanziellen Notlage und ihrer schweren Behinderung eine Entschädigung von 20’000 DM. Als 17jährige hatte man sie nach Ravensbrück gebracht. Achtzehn Monate blieb sie dort als “Bettpolitische”, weil sie angeblich mit einem polnischen Zwangsarbeiter ein Verhältnis hatte.
Für “Asoziale”, die im KZ zur Zwangsarbeit herangezogen wurden, leistet die Bundesstiftung “Erinnerung, Verantwortung und Zukunft” die erste vom Einkommen unabhängige Entschädigung. Doch auch hier werden sie diskriminiert. Dies begann bereits bei den Verhandlungen zwischen der Bundesregierung einerseits und den Verfolgtenvertretungen anderseits über die Modalitäten der Stiftungsgeldervergabe. Während die jüdischen Zwangsarbeiter durch ihre Verbände und die Zwangsarbeiter aus Russland, Weissrussland, der Ukraine, Tschechien und Polen durch ihre Regierungen vertreten wurden, hatten die “Asozialen” keine offiziellen Fürsprecher. Man ordnete sie der Kategorie “Rest der Welt” zu. Mit der Verwaltung – Bearbeitung der Anträge und Auszahlung der Gelder – ist die Internationale Organisation für Migration in Genf beauftragt worden. Die IOM ist aber in Entschädigungsfragen unerfahren und hat relativ wenig Geld im Topf. “Noch in der letzten Nacht der Verhandlungen wurde der Topf der IOM, der ursprünglich bei 400 Millionen Euro lag, auf 280 Millionen Euro abgesenkt”, berichtet Evers. Also werden die “Asozialen” wohl weniger Geld erhalten als andere Zwangsarbeiter und auf die einzelnen Raten auch noch länger warten müssen.

Fehlende Lobby
“Wer bei den Verhandlungen vertreten war, reflektiert ja nicht zuletzt, wem es gelungen war, sein organisiertes Interesse in amerikanischen Klagen zu bündeln”, betont Evers. Viele der Überlebenden in der Bundesrepublik, die nicht als Juden verfolgt wurden, seien nicht organisiert. Je individueller das Schicksal war, desto weniger ist es organisierbar. Umso weniger will man auch darüber reden, weil es einem peinlich ist. Zu diesem schlecht zu kategorisierenden Personenkreis gehören die “Asozialen”.
Eine Bundesstiftung “Vergessene Opfer” würde die Benachteiligung wettmachen. Evers schlägt vor, sie nach dem Modell des Landes Berlin zu organisieren. Hier wurde das “Gesetz über die Anerkennung und Versorgung der politisch, rassisch und religiös Verfolgten” (PrV-Gesetz) 1990 novelliert. Seither können Betroffene aller Verfolgtengruppen eine Rente bekommen. “Wenn sich das bankrotte Berlin eine solch grosszügige Regelung leisten kann, müsste das der Bund doch auch können”, meint Evers.
Studie über das Frauen-KZ Ravensbrück
Wie von der Politik wurden die “Asozialen” auch von der Wissenschaft erst in den achtziger Jahren als eigenständige Gruppe entdeckt. Die ersten Berichte “asozialer” Häftlinge des Frauen-KZ Ravensbrück wurden noch später überliefert. 2001 legte die Berliner Historikerin Christa Schikorra mit ihrem Buch “Kontinuitäten der Ausgrenzung” die Ergebnisse ihrer Pionierarbeit vor.* Sie schildert die Verfolgungsgeschichte der “Asozialen” und Schicksale einzelner Häftlinge des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück.
Während Männer vor allem wegen vermeintlicher “Arbeitsscheu” als “asozial” inhaftiert wurden, war bei Frauen, egal welchen Delikts sie beschuldigt wurden, stets auch ihr “sittliches Verhalten” ausschlaggebend. In den ersten Jahren bildeten Prostituierte die Mehrheit der “asozialen” weiblichen KZ-Häftlinge. Später genügte schon eine Geschlechtskrankheit, um Frauen wegen “liederlichen Lebenswandels” einzusperren. Dies nicht nur, weil mit Kriegsbeginn der Bedarf an Arbeitskräften – sprich Zwangsarbeitern – für die Rüstungsindustrie stieg und die Männer als Soldaten an der Front waren; die Ächtung des “häufig wechselnden Geschlechtsverkehrs” (“hwG”) diente nicht zuletzt auch der “Aufrechterhaltung der Heimatfront”, sprich der Disziplinierung der Ehefrauen der Soldaten.

Chaotische Binnenstruktur des Lagers
Bis 1940 stellten die “asozialen” Häftlinge rund ein Drittel der Insassen und damit die grösste Gruppe in Ravensbrück. Jüdische Gefangene waren in der Minderzahl. In der Hierarchie der “arischen” Häftlinge standen die “Schwarzwinkligen” an unterster Stelle. Das Stigma “asozial” klebte auch im KZ an ihnen. Mit der Ankunft von politischen Häftlingen aus den besetzten Gebieten wurden die “Asozialen” – die allesamt Reichsdeutsche, also Deutsche oder Österreicherinnen waren – als “arische” Häftlinge aufgewertet. Die SS setzte viele von ihnen als Funktionshäftlinge ein.
Anders als die politischen Häftlinge oder die Zeuginnen Jehovas hatten die “asozialen” Frauen keinen weltanschaulichen Zusammenhalt. Zu verschieden war ihr sozialer Hintergrund. Im Laufe des Krieges hatte sich die Zusammensetzung der “asozialen” Häftlinge geändert. Nun wurden vermehrt junge Frauen eingewiesen, die als “verwahrlost” galten oder ihrer “Dienstpflicht” nicht nachgekommen waren. Ihre Berichte über den Lageralltag lassen die Binnenstruktur des KZ in einem neuen Licht erscheinen. “Statt über Aktionen von Solidarität und Widerstand erzählen sie von den chaotischen Verhältnissen im KZ, von Orientierungslosigkeit und der Angst, was der morgige Tag bringen mag”, betont Christa Schikorra.
Selten erwähnen sie Freundschaften. Die Furcht vor Diebstahl und Verrat verhinderte engere Bindungen. Die Folge war Vereinzelung. Die wenigsten Informationen über die Situation der “Asozialen” im KZ stammen von den Betroffenen selbst. “Überwiegend prägen Distanz, Abscheu und Klischees die Berichte der anderen Häftlinge über sie”, fand Schikorra. Die meisten “Asozialen” hätten das verdrängt. Sie erwähnen die Abwertung durch ihre Mithäftlinge mit keinem Wort, berichten vielmehr davon, wie sie es schafften zu überleben.

Schweigen nach dem Krieg
Nach Kriegsende hätten die Frauen, jede auf ihre Art, sich an die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse angepasst. Sie wollten endlich ein “normales” Leben führen. Dies hiess aber, nicht nur die schlimmen Erfahrungen im KZ, sondern auch das Stigma ihrer Verfolgung als “Asoziale” zu verdrängen. So erfuhren sie oft nur zufällig von der Möglichkeit, eine Entschädigung zu beantragen. Erst im Alter – als sie für die Rentenberechnung ihre Arbeitsjahre im KZ [sic!] nachweisen mussten – machten sie ihre Ansprüche geltend.
Die Anerkennung als NS-Verfolgte ist den Frauen meist wichtiger als die finanzielle Entschädigung. Ihnen geht es vor allem darum, dass das Unrecht, das ihnen angetan wurde, anerkannt wird. Mit der Anerkennung als NS-Verfolgte erleben sie oft zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl “dazuzugehören”.

* Christa Schikorra: “Kontinuitäten der Ausgrenzung. ‘Asoziale’ Häftlinge im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück”. Metropol-Verlag, Berlin 2001

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