Aufgeboten zur Rassenprobe
Standesbeamte mussten helfen, die späteren Opfer zu identifizieren
Von Siegfried Maruhn*
NZZ Nr. 38/2003, S. 79
Raul Hilberg hat in seiner Arbeit über die “Vernichtung der europäischen Juden” vier Phasen der nationalsozialistischen Judenverfolgung beschrieben: Der Definition folgten die Enteignung, die Konzentration und schliesslich
die Vertreibung bzw. Ermordung. Es war ein Prozess, an dem sehr viele beteiligt waren, insbesondere Beamte: bei der Polizei, der Eisenbahn, den Gesundheitsbehörden und auch auf den
Standesämtern.
Die Standesbeamten wurden sehr früh bemüht, schon 1933, als mit dem sogenannten Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums der “Arierparagraph” eingeführt wurde. Wer Beamter werden oder bleiben wollte,
musste seine “rein arische” Abstammung bis zu den Grosseltern nachweisen. Dem Beispiel folgten bald andere Organisationen und Vereine.
Millionen von Nachweisen
Zunächst bedeutete der Ariernachweis für die Standesbeamten nur Mehrarbeit. Sie fertigten Abschriften aus den Büchern und beglaubigten sie. 1936 bedankte sich Innenstaatssekretär Pfundtner dafür, dass sie zusätzlich
bereits “Millionen von Urkunden” für die Abstammungsnachweise ausgestellt hätten. Eine analoge Arbeit mussten auch die Kirchen leisten, die bis 1875 für die Personenregister zuständig gewesen waren.
Wie die Nachweise dann beurteilt wurden, war Sache der Stelle, die sie verlangt hatte. Überzeugte Rassisten hielten (wie ihre Gesinnungsgenossen in anderen Ländern und Erdteilen, sei es Südafrika oder die USA) schon
einen Tropfen “artfremden” Blutes für ausreichend, um den Kandidaten als “nichtarisch” abzulehnen. Für besondere Verwirrung sorgte, dass die Gesetzesautoren einen reichlich unklaren Begriff gewählt
hatten, um angebliche Rassen zu definieren.
Immer wieder lehnten es eifrige Nationalsozialisten ab, einen Juden oder Zigeuner mit einem “arischen” Partner zu trauen. Das Innenministerium warnte im Januar 1934 vor ungünstigen Reaktionen im Ausland und wies dann
die unterstellten Behörden [an], “die Gesetze so anzuwenden, wie sie in Geltung sind, und sich zu ihnen auch dann nicht in Widerspruch setzen, wenn sie vielleicht nationalsozialistischen Auffassungen nicht voll zu entsprechen
scheinen”.
Dieses Schreiben wurde nach dem Krieg von den Beamten des Innenministeriums zur Entlastung angeführt. Tatsächlich ging die Kampagne gegen sogenannte Mischehen jedoch weiter, bis die Nürnberger Gesetze 1935 die Rassentrennung
in der angestrebten Form, mit Definitionen, Rechtsverordnungen, Kommentaren und Dienstanweisungen, brachten. Die Beamten konnten sich nun auf sicherem Boden wähnen. Als wichtigste Instanz sollten sie die Wohnbevölkerung Deutschlands
durchmustern, “sortieren”, wie es in einem Kommentar hiess.
Den assimilierten Juden auf der Spur
Die noch ihrem Glauben anhängenden Juden [...] waren leicht zu erfassen. Die Gestapo hatte Zugriff auf die entsprechenden Listen der jüdischen Gemeinden. Dem Regime ging es aber auch darum, ein Jahrhundert der Emanzipation und
der teilweisen Assimilierung rückgängig zu machen. Die Standesbeamten waren dazu ausersehen, die “Verseuchung” des deutschen Volkskörpers durch “jüdisches Blut” aufzudecken und die Träger dieses
Giftes zu ermitteln.
Sie mussten nicht aktiv nach ihnen suchen. Die Menschen wurden aufgeboten zur Ahnenprobe. Wer sonst keinen Ahnenpass vorlegen musste, war dazu gezwungen, wenn er heiraten wollte. Juden und andere “Fremdblütige” durften keine
“deutschblütigen” Partner heiraten. Ebenso war eine Ehe ausgeschlossen, wenn einer der Verlobten an einer der erblichen Krankheiten litt, die im “Erbgesundheitsgesetz” aufgeführt waren.
Die Pflege der Erbgesundheit (im Jargon “Volksaufartung”) war ein Steckenpferd der Standesbeamtenführung gewesen. Der Gründer ihres Berufsverbandes, Edwin Krutina, hatte schon in den zwanziger Jahren dafür geworben
und, als die Nazis an die Macht kamen, den Ausbau der Standesämter zu “Sippenämtern” gefordert, in denen alles zusammengetragen werden sollte,
was die eugenische Qualität des einzelnen betraf. Einige Jahre lang wurde innerhalb des Innenministeriums darum gerungen, dann siegten die Gesundheitsbehörden. Ihnen und nicht den Standesbeamten wurde es übertragen, Erbwert oder
-unwert der Menschen zu beurteilen. Die Standesbeamten mussten nur darauf achten, dass im Zweifelsfall vor der Hochzeit das Votum des Gesundheitsamtes eingeholt wurde.
Bei der Rassenprobe waren die Standesbeamten erste und in der grossen Mehrzahl der Fälle letzte Instanz. Sie prüften die Unterlagen der Grosseltern jedes Verlobten. Hauptmerkmal, auf das sie achten mussten, war die Religion, denn
andere Anhaltspunkte konnte die angeblich so wissenschaftliche Rassenlehre nicht liefern.
Befand sich unter den vier Grosseltern ein Jude, wurde der Abkömmling als “Mischling 2. Grades” eingestuft, bei zwei jüdischen Grosselternteilen als “Mischling 1. Grades”. Waren drei oder gar vier Grosselternteile
jüdisch, lautete der Befund “Jude”. Hinzu kamen die “Geltungsjuden”, wie sie im Behördenjargon genannt wurden; das waren “Mischlinge”, die sich zum jüdischen Glauben bekannten oder die unter Missachtung
der Nürnberger Gesetze in “Rassenschande” gezeugt worden waren – Gesetze, die zur Zeit dieser Zeugung noch nicht [existierten].
Als “fremdblütig” galten daneben Zigeuner und Angehörige nichteuropäischer Völker. Ausdrücklich genannt wurden “Negerbastarde”.
Wie beim Verdacht auf Erbkrankheiten musste der Standesbeamte in unklaren Fällen wieder das Gesundheitsamt bemühen und dort eine Ehetauglichkeitsbescheinigung verlangen.
War die “Rasse” der Verlobten bestimmt, hatte der Beamte höchst komplizierte Regeln zu beachten. Juden durften nur Juden oder “Halbjuden” heiraten (wodurch diese zu “Geltungsjuden” wurden). Mischlinge
1. Grades durften nur andere “Halbjuden” oder Juden heiraten, Mischlinge 2. Grades durften nur “deutschblütige” Partner ehelichen, keine anderen Mischlinge 2. Grades (auch “Vierteljuden” genannt). Die
rassenpolitische Begründung lautete, dass die Mischlinge 2. Grades schon zur “deutschen Blutsgemeinschaft” hinneigten. Kinder von zwei “Vierteljuden” galten, da sich unter ihren Grosseltern keine “Volljuden”
mehr befanden, als “deutschblütig”.
Bei “Halbjuden”, die “Halbjuden” heirateten, trat dieser Effekt eine Generation später ein. Allerdings versuchte die SS, ohnehin unzufrieden mit dem bürokratischen Regelwerk, noch in den letzten Kriegsjahren, die
“Halbjuden” in die Vernichtung mit einzubeziehen.
Spielraum und Übereifer der Beamten
Fachzeitschriften und -bücher der Standesbeamten wimmelten nun von Beiträgen, in denen Stammbäume grafisch dargestellt und erläutert wurden. Insgesamt gab es 32 Varianten, da nicht nur die rassische Einordnung beachtet werden
musste, sondern auch die Staatsangehörigkeit. Konnte die Ehe geschlossen werden, wurde in einem letzten, bedeutsamen Akt die rassische Einordnung in das Familienbuch eingetragen. Dadurch sollte erreicht werden, “dass in etwa 30 Jahren die
rassische Einordnung der weitaus überwiegenden Zahl aller im Deutschen Reich lebenden Menschen aus den Familienbüchern ersichtlich ist. Für die Durchführung rassenpflegerischer Massnahmen ist das von grossem Wert”, heisst es
in der amtlichen Begründung des Personenstandgesetzes von 1938. Da das Familienbuch wie die anderen Standesamtsregister “ewigen” Bestand hatte, sollte hier das zentrale Rassenarchiv entstehen.
Übereifer wurde nicht verlangt, obwohl fleissige Standesbeamte stolz darüber berichteten, wie sie – etwa durch den Ankauf von Tauflisten – verstecktem “jüdischem Blut” auf die Spur gekommen waren. Andererseits
konnten sie nicht ohne weiteres “Deutschblütigkeit” bescheinigen, wenn einer der vier Grosselternteile fehlte. Eidesstattliche Versicherungen der Verlobten waren ein Notbehelf, mit dem sich der Standesbeamte zufrieden geben konnte.
Doch musste er mit einer späteren Nachprüfung (“nach dem Endsieg”) rechnen. In Zweifelsfällen konnte er die Ehewilligen an das Reichssippenamt (bis 1939 “Reichsstelle für Sippenforschung”), eine dem
Innenministerium angegliederte Behörde, verweisen, das seinerseits Gutachter beauftragen konnte, die “Rasse” anhand von Photographien oder körperlichen Merkmalen zu bestimmen.
Wer ist “deutschblütig”?
Grob unterschieden wurde zwischen Juden und “Judenmischlingen” sowie anderen “Fremdrassigen” auf der einen und Menschen “deutschen oder artverwandten Blutes” auf der anderen Seite. Die Dienstanweisung von 1938
schrieb vor, dass aus Platzgründen statt “deutschen oder artverwandten Blutes” nur “deutschblütig” einzutragen war. Deutschen oder artverwandten Blutes ist, wer der nordischen, fälischen, dinarischen, westischen,
ostischen oder ostbaltischen Rasse oder einer Mischung dieser Rassen angehört. Dies wird im allgemeinen bei den Angehörigen der Völker, die in Europa geschlossene Siedlungen bewohnen, und bei ihren artreinen Abkömmlingen in
aussereuropäischen Ländern der Fall sein. Die Vorschrift, dass “artverwandte” Europäer der Einfachheit halber als “deutschblütig” einzutragen waren, führte zu Schwierigkeiten, als sich das
“Grossgermanische Reich” abzuzeichnen begann, das nach dem Krieg errichtet werden sollte. Bald gab es Einzelregelungen für die unterworfenen Völker. Betroffen waren vor allem Polen und Russen, die ausgegrenzt wurden. “Die Ehe
zwischen Ostarbeitern und Angehörigen anderer Völker und Volksgruppen ist unerwünscht, eine solche mit deutschen Volksgenossen verboten”, wurde den Standesbeamten 1944 mitgeteilt. Dieses letztere Verbot bezieht sich ausdrücklich
nur auf Eheschliessungen in den besetzten Ostgebieten, enthält aber zugleich eine grundsätzliche Ablehnung solcher Ehen, die auch im Inland zu beachten ist.
Wie unklar die Rechtslage war, zeigt ein Artikel aus dem Jahr 1944. Ein Abteilungsleiter im Reichssippenamt warnte die Standesbeamten davor, die rassische Einordnung in das den Eheleuten ausgehändigte Familienstammbuch zu übertragen. Der
Standesbeamte dürfe gemäss der unverändert geltenden Dienstanweisung auch bei Personen, die “polnischen, französischen, serbischen oder tschechischen Stammes sind, stets eintragen: deutschblütig”. Die Betreffenden
könnten später behaupten, Volksdeutsche zu sein. Der Autor empfiehlt: “Der Standesbeamte wird am besten stillschweigend nie eine Eintragung vornehmen; er erleichtert sich dadurch auch im Kriege die Arbeit etwas.”
Dass hier auch Franzosen als nicht ganz artverwandt genannt wurden war kein Zufall. Gauleiter Wagner, der Chef der Zivilverwaltung im Elsass, hatte schon 1942 Ehen zwischen Elsässern und Fremdvölkischen, womit vor allem Franzosen gemeint
waren, verboten. Neue, d. h. nach Einkunft dieser Anordnung beim Standesbeamten eingehende Anträge dieser Art sind grundsätzlich abzuweisen, die Entgegennahme des Aufgebotsantrags ist zu verweigern.
Es ist müssig, darüber zu spekulieren, was das Grossgermanische Reich noch gebracht hätte. Der Einblick, den diese Ansätze bieten, ist schlimm genug.
Deutsche Namen für deutsche Kinder
Die Durchsortierung der Bevölkerung war nicht die einzige rassenpolitische Aufgabe des Standesbeamten. So mussten sie auch auf die “richtige” Namensgebung achten. “Deutschblütige” Kinder sollten “deutsche”,
jüdische nur solche Vornamen erhalten, die in einer eigenen Liste aufgeführt waren. Erwachsene Juden mussten einen zusätzlichen Zwangsvornamen (Israel oder Sara) annehmen und sich für dessen Eintrag schriftlich beim Standesbeamten
und bei der Polizei melden, die wiederum verpflichtet war, die Staatspolizei (Gestapo) zu unterrichten.
Besonders eifrige Beamte machten ihre Kollegen darauf aufmerksam, dass zum Beispiel ein “Halbjude” durch die Heirat mit einem “volljüdischen” Partner zum “Geltungsjuden” werde und damit ebenfalls verpflichtet
sei, den Zwangsnamen anzunehmen. Ein anderer regte an, man solle bei Urkunden, die von emigrierten Juden angefordert würden, den Zwangsvornamen nicht vergessen und ihn auch dann hinzufügen, wenn er gar nicht beantragt worden war. Das
“Schandmal” sollte dem Flüchtling nicht erspart bleiben.
Wenig konsequente Entnazifizierung
Ein Unrechtsbewusstsein scheint sich bei den Standes- wie anderen Beamten nicht entwickelt zu haben. Sie wurden auch nicht zur Rechenschaft gezogen, als der Rassenwahn sein Ende nahm. Ganz oben gab es wohl einige Opfer.
Innenminister Frick wurde ebenso aufgehängt wie der Judenhetzer Streicher. Der leitende Staatssekretär Pfundtner beging bei Kriegsende Selbstmord, wie auch der Chef des Reichssippenamtes, Kurt Mayer. Doch schon eine Etage tiefer ging die Karriere
nach kurzer Pause ungestört weiter. Von den Kommentatoren der Nürnberger Gesetze wurde einer Staatssekretär bei Adenauer, ein anderer Regierungspräsident. Ihre Kommentare rechtfertigten sie als Hilfeleistungen für die Juden und die
“Mischlinge”, die so vor wilder, ungeregelter Verfolgung geschützt worden seien.
Die einfachen Standesbeamten wurden allenfalls verfolgt, wenn sie, wie sehr viele Beamte, Parteigenossen gewesen waren. Die Entnazifizierung ging nachsichtig mit ihnen um, hatten sie doch nur Gesetze und Verordnungen ausgeführt, Kommentare beachtet,
ihre Dienstanweisungen befolgt. Die Nürnberger Gesetze waren ja vom Reichstag in öffentlicher Sitzung beschlossen, alle Verordnungen publik gemacht worden.
Für den Nachgeborenen ist das vielleicht das Erschreckendste, dass jede Phase der Aussonderung, der Entrechtung, der Beraubung und schliesslich der Austreibung öffentlich und offiziell verkündet wurde, bis hin zu jener
infamen 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 1. Juli 1943, mit der den Juden der Schutz der Gerichte und, nach ihrem Tode, ihr Vermögen genommen wurde.
Diese Massnahmen konnte, wer Zeitung las und nicht wegschauen wollte, kennen. Zumindest den Beamten, die diese Gesetze und Verordnungen ausführten, hätte irgendwann klar werden müssen, woran sie an bescheidener, aber nicht unwichtiger Stelle
mitwirkten.
* Der Autor ist u. a. Verfasser des Buchs “Staatsdiener im Unrechtsstaat”, Frankfurt am Main 2002
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