Der forensische Psychiater im Präventionsstrafrecht
Von Dr. Peter Zihlmann, Basel (www.peter.zihlmann.com)
Januar 2013

In den letzten zwanzig Jahren hat sich unser Strafjustizsystem rapid verändert, verschärft und immer mehr abgekoppelt vom System, das Freiheitsstrafe dem Täter gemäss seiner Schuld an begangener Tat zumisst. Der Masstab war seit Jahrhunderten das Verschulden des Täters, das in der Tat und den Motiven, die zur Tat führten, zum Ausdruck kommt. Das Gesetz gab lediglich einen weiten Strafrahmen vor.
Seit dem 19. Jahrhundert ist Strafzumessung sodann im Einzelfall verbunden mit einer Innenschau, einer Analyse der Psyche des Täters. Strafe setzte Schuld und daher auch die Schuldfähigkeit des Täters voraus. Noch immer gehört es zur richterlichen Norm, einen Psychiater im Zweifelsfall die Schuldfähigkeit eines Delinquenten vorgängig abklären zu lassen. Die Frage des Richters an den psychiatrischen Gutachter ist gemäss gesetzlicher Vorgabe: Konnte der Täter das Unrecht seiner Tat einsehen,und hatte er auch die Fähigkeit, gemäss dieser Einsicht zu handeln? Fehlte ihm die eine oder andere dieser Fähigkeiten, galt er als schuldunfähig und durfte nicht bestraft werden. Er wurde als Geisteskranker oder Geistesschwacher in einer Klinik behandelt, meist in einer geschlossenen Abteilung, also unter Zwang. Es gibt nach wie vor Abstufungen der Zurechnungsfähigkeit, diese kann auch bloss vermindert sein. Das hat Milderung der Strafe zur Folge.
Das oberste Prinzip des Strafrechts war die ausgleichende Gerechtigkeit, weil begangenes Unrecht ausgeglichen und die Strafe massvoll nach dem Grad des Verschuldens und der Zurechnungsfähigkeit zugeteilt werden sollte. Der Täter sollte durch die Strafe erklärtermassen nicht nur bestraft, sondern gleichzeitig auch gebessert, das heisst resozialisiert werden; war er geisteskrank, sollte er aufgrund angeordneter Massnahmen psychiatrisch behandelt werden.

Gegen das Ende des letzten Jahrhunderts kam durch die Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Technologien eine neue Sicht und Idee auf. Schwere Gewalt- und Sexualstraftaten sollten nicht nur bestraft, sondern von vornherein durch Wegschliessung der möglichen Täter verhindert werden. Solche Untaten erregten schon immer das öffentliche Interesse. Durch die Massenmedien wurde es möglich, die Angst der Bevölkerung und den Volkszorn durch die Darstellung solcher Verbrechen zu entfachen. Der Ruf nach mehr Strafverfolgung, härterem Zugriff, Ausbau des Zugriffsinstrumentariums entsprechend der technischen Entwicklung – Stichwort Lauschangriff und verdeckte Ermittlungen durch V-Personen – war die logische Folge. Zudem konnte daraus politisches Kapital geschlagen werden: Der Begriff “innere Sicherheit” als Polizeiaufgabe trat in den Vordergrund. Kriminalität sollte verhindert werden. Die vorgenommene Erhöhung des Etats an Polizeieinsatzkräften allein konnte keinen durchschlagenden Erfolg bringen.
Die Idee, Verbrechen zu verhindern, ist so umgesetzt worden, dass der einmal straffällig Gewordene auf seine Gefährlichkeit für die Gesellschaft untersucht und bei positivem fachärztlichem Befund unabhängig von seinem Verschulden weggeschlossen werden kann. Der Begriff des “Gemeingefährlichen” wurde in der Schweiz im Anschluss an den Mord eines im Hafturlaub Rückfälligen im Herbst 1993 (sogenannter Mord am Zollikerberg) und nach einer weiteren, ähnlich schrecklichen Tat eines Rückfälligen geschaffen. Solche Täter sollten auf sehr lange Zeit verwahrt werden, möglichst für immer. 2004 wurde die Volksinitiative angenommen, welche lebenslange Verwahrung gefährlicher Sexual- und Gewaltstraftäter forderte. Auf Bestrafung wird dennoch nicht verzichtet. Also müssen solche Täter ihre Strafe zuerst absitzen, um anschliessend zwangstherapiert oder – falls sich das als undurchführbar erweisen sollte – verwahrt zu werden. Da es nicht mehr um Schuld- und Strafzumessung geht, sondern um Wahrung der inneren Sicherheit, ist der Bezug zur Gerechtigkeit überhaupt in Frage gestellt: Der gefährliche Täter muss der Gesellschaft das Opfer seiner Freiheit bringen, damit diese sicher bleibt.

Der derart zurückgedrängte Grundgedanke der ausgleichenden Gerechtigkeit schien durch den Ausbau des Opferschutzes kompensiert. Nun werden belastende Zeugenaussagen vor allem in Vergewaltigungsprozessen weniger kritisch hinterfragt und Konfrontationen mit dem Beschuldigten vermieden, um das Opfer nicht einer zweiten “Viktimisierung” auszusetzen. Und der Schutz ist vom Moment der Beschuldigung an wirksam, ohne dass der Opferstatus einer Prüfung unterzogen würde. Dies widerspräche der political correctness.

Ohne gesetzliche Grundlage wurde durch die Hintertüre der Praxis eine Institution zur Bestimmung der Gemeingefährlichkeit der Delinquenten eingeführt, die sogenannte “Fachkommission zur Überprüfung der Gemeingefährlichkeit von Straftätern”. Darin nehmen Beamte Einsitz, die in irgendeiner Funktion mit dem bisherigen Strafvollzug zu tun haben: Gefängnisdirektoren, Staatsanwälte, Strafrechtler bis hin zu Beamten aus dem Strafvollzug. Die wichtigste Funktion in diesen Dunkelkammern übernehmen wie selbstverständlich die Psychiater. Die Fachkommissionen erteilen “unverbindliche Empfehlungen” zuhanden der Strafrichter. Die Mitglieder dürfen den Täter weder behandelt haben, noch ihn auch nur näher kennen. Es wird regelmässig aufgrund der Akten entschieden; auf Antrag kann der Betroffene ausnahmsweise von der Kommission angehört werden.
Die Einbahnstrasse für Verwahrungen ist signalisiert. Der Damm der Rechtsstaatlichkeit ist gebrochen. Empathie mit den Eingeschlossenen ist ausgeschlossen.

Die Psychiater scheinen sich nicht daran zu stossen, dass sie in den Dienst eines sich technokratisch organisierenden Polizei- und Wegsperrapparates gestellt werden. Geblendet durch die ihnen zugeteilte Macht entwickeln die besten Forensiker sogar Systeme, die künftiges deliktisches Verhalten eines Menschen, dem sie eine Störung attestieren, angeblich voraussagen können, mit höherer Wahrscheinlichkeit als Meteorologen das Wetter. So verlieren Menschen ihre Freiheit auf Jahrzehnte. Forensiker scheint es nicht zu kümmern, dass sie ihrer ärztlichen Aufgabe entrückt und als Vollzugsgehilfen des Sicherungssystems eingesetzt werden; einige unter ihnen sonnen sich sogar öffentlich in der Aura ihrer Macht. Sie taxieren die ihnen vorgeführten Menschen und entscheiden über deren Freiheit aufgrund ihrer Prognose. Sie sind zu modernen Schamanen geworden. Formell geben sie nur eine Empfehlung ab, andererseits fühlt sich der Richter durch die Empfehlung gebunden und entlastet.
Ein von aussen unangreifbares System. [...]

Unabhängig und selbständig arbeitende Psychiater, die dieses System kritisieren oder im Auftrag der Verurteilten abweichende Stellungnahmen im Einzelfall abgeben, werden als Nicht-Forensiker und halbe Laien verlacht, und ihre Gutachten werden zurückgestuft. Nur der Forensiker ist ein Forensiker, andern wird kaum Fachverstand zugebilligt.
Ein perfektes, weil selbstreferentielles System mit Monopolcharakter.

Die Forensiker sprechen nicht mehr von Geisteskranken oder Psychopathen, das wäre gegen die political correctness. Das neue Zauberwort ist “die Persönlichkeitsstörung”, ein Begriff kühn zwischen Krankheit und Kriminalität hineingezwängt zur Sicherung der inneren Sicherheit. Das Mittel, derartige Störenfriede wegzusperren, ist das Gefährlichkeitsgutachten eines Forensikers. Der als mangelhaft erkannte Mensch, der Gemeingefährliche, hat die Konsequenzen zu tragen. Ihn trifft keine Schuld, aber er hat die Tat zu verantworten, und die Massnahme trifft ihn härter als jede Strafe. Sie ist ohne zeitliches Ende, unangemessen, unverhältnismässig zu seinem Tun, schlicht endlos und lässt ihm keine Hoffnung. Einzig die verräterische Tür zur Therapie scheint als letzter Ausweg noch offen, solange der Gutachter ihm nicht Untherapierbarkeit attestiert hat. Dem Gutachter ist “der Klient” auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Das Machtgefälle zwischen den beiden ist kaum kleiner als jenes zwischen Herr und Knecht.

Das Massnahmenrecht wurde 2007/2008 neu konzipiert. Dies aufgrund von Gesetzgebungsarbeiten, die schon 1983 begonnen worden waren. Der Begriff des Geistesschwachen oder Geisteskranken verschwand ebenso wie jener des Psychopathen oder Gewohnheitsverbrechers alter Schule. Es gibt jetzt vor allem neu und zusätzlich Täter mit Persönlichkeitsstörungen, eingeteilt in ein Klassifikationssystem der Psychiater, das alles umfasst vom Schwachsinn bis zum Wahnsinn nach Eugen Bleuler und Ernst Kretschmer, den “Altmeistern” der Psychiatrie. Im Einzelfall gehen die “schweren Persönlichkeitsstörungen” über jeden Krankheitsbegriff weit hinaus. Die Forensiker sprechen nun nicht mehr von Patienten, sondern von Klienten. Ob krank oder nicht spielt keine Rolle mehr, Hauptsache, der als schwer gestört Taxierte kann weggesperrt werden.
Diesen zynischen Zugang nennen die Forensiker “pragmatische Problemlösung”.

Das vom Strafrichter ausgesprochene Strafmass ist für die zusätzlich zu verhängende Massnahme unerheblich. Der Grundsatz der sonst so hoch gehaltenen Rechtskraft eines Urteils wird gebrochen. Der Psychiater kann aufgrund seiner Beurteilung Verwahrung empfehlen, und der Richter wird sie jederzeit als “nachträgliche Verwahrung” nach deutschem Vorbild verfügen. Jedes Strafurteil wird durch diese Öffnung zur Psychiatrie in seinem Strafmass unsicher und nach oben hin ins Unabsehbare erweitert. Es ist nur noch ein Fetzen Papier in der Hand der Psychiater und des Strafvollzugs. Und alles ist nur an diesem Umstandswort “nachträglich” im Gesetz (StGB Art. 65 Abs.1) festgemacht. Die Frage an den Menschen ist nicht mehr mit nach rückwärts gewandtem Blick in seine Vergangenheit an ihn selbst gestellt. Sein mögliches, wahrscheinliches Verhalten in der Zukunft wird aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur von einer Fachperson eingeschätzt. All das kann geschehen, solange der Anlasstäter im Straf- oder Massnahmenvollzug ist und – wie die Gerichtspraxis zeigt – sogar noch danach!

Das Institut der nachträglichen Verwahrung wurde aus praktischen Gründen scheinbar beiläufig eingeführt. Solange ein Täter im Straf- oder Massnahmenvollzug festsitzt, kann der Richter in Abänderung seiner rechtskräftigen Urteile ohne neue Tat nachträglich Verwahrung anordnen. Die Täter sehen sich nach Ende der Strafe plötzlich mit einer von ihnen keineswegs verschuldeten Fortsetzung des Freiheitsentzuges – diesmal ohne Zeithorizont – konfrontiert.

Der Weg zum lebenslänglichen Weggesperrtwerden beginnt oft zuerst unauffällig durch die richterliche Anordnung einer harmlos anmutenden ambulanten Psychotherapie.
Von Gesetzes wegen ist diese jederzeit umwandelbar in eine stationäre Therapie, wenn Probleme entstehen und die Therapie aussichtslos erscheinen sollte (StGB Art. 63a & 63b). Dieser Drohfinger kann vom Therapeuten gegenüber Betroffenen jederzeit erhoben werden. Die Umwandlung in eine stationäre Massnahme [...] wird in der Praxis als “kleine Verwahrung” bezeichnet.
Eine hilfreich erscheinende, wenig einschneidende Massnahme wird nachträglich ohne neues Delikt zu einem Freiheitsentzug ohne Ende. Eine maximale Dauer [...] ist nicht festgelegt. Es gibt sie nicht.

Dies alles ist mehr als nur eine Fehlleistung des Strafsystems. Es ist ein epochaler Irrtum.
Mir sind Fälle bekannt, wo noch nach 20 Jahren Freiheitsentzug Therapien fortgeführt werden sollen. Gigantische Therapiekosten werden zulasten der Krankenkassen und Steuerzahler angehäuft.
Der Mensch wechselt so vom Strafrichter in die Gewalt der Psychiater, die sich in den Dienst des Strafvollzugs gestellt haben. Verhinderung künftiger Verbrechen ist das Ziel. Die Unschuldsvermutung ist ausser Kraft gesetzt, nicht nominell, aber im Ergebnis. Es braucht keine Schuld, sondern nur vom Gutachter attestierte “Gefährlichkeit” des Täters. [...]

Wer seine ihm angelastete Tat weiterhin leugnet, ist ein Hartgesottener, ein Widerspenstiger, ein Renegat, er ist uneinsichtig, ohne Reue und ohne Krankheitseinsicht und gilt als nicht therapierbar: Unschuld als Systemfehler und Restrisiko! Ihm droht Zwangsmedikation und vor allem ganz konkret Verwahrung – ihm, dem vielleicht wirklich Unschuldigen! Soweit wollen Forensiker gar nicht denken; sie dürfen es aus der Sicht des juridischen Systems auch gar nicht.

Gerade deswegen ist und bleibt das grösste Problem dieses Systems der Nicht-Geständige. Wer sich der Therapie widersetzt, namentlich weil er bestreitet, die Tat begangen zu haben, gilt bei hartnäckiger Weigerung als nicht therapierbar. Der Widerspenstige hat seine letzte Chance in den Augen des Forensikers verspielt und wird verwahrt. Das System ist logisch geschlossen und wird denn auch von sportlich-aggressiv veranlagten Forensikern durchgeboxt ohne Rücksicht auf Verhältnismässigkeit, Verlust des Augenmasses und der Mitmenschlichkeit.

Das alles geht leicht von der Hand: Der Therapeut empfiehlt eine Massnahme, ein überlasteter Richter segnet sie ab und unterzeichnet als erster das Urteil. [...] Schliesslich unterzeichnen die andern Richter mit. Ein klarer Fall. Hauptsache, der Störenfried wird unschädlich gemacht, und es kann nichts passieren, was die Öffentlichkeit gegen das System und die Amtsträger aufbringen könnte. [...]

Die Richter passten sich dem neu entstandenen Sicherheitsapparat erstaunlich widerstandlos an und dienen ihm zu und folgen den Empfehlungen der Fachkommissionen und Forensiker. Allzu willfährig verhaften sie Täter, die ihre Strafe oder Massnahme bereits abgesessen haben, oder entlassen sie selbst nach Ablauf der Strafverbüssung nicht mehr in die Freiheit. So scheint es nicht einmal mehr nötig zu sein, für rechtzeitige richterliche Verlängerung der Massnahmen zu sorgen. Die einmal Verurteilten werden vorsorglich in Haft behalten. Als Deckmantel diente der von Richtern geschaffene Begriff des sogenannten “Nachverfahrens” oder der “vorläufigen Verwahrung” oder der Sicherungsmassnahme zur Durchführung einer in Zukunft zu erwartenden Massnahme. Der Erfindungsgeist der Richter war plötzlich beachtlich angeregt.
Die gesetzliche Grundlage ist hauchdünn oder fehlt ganz, und der Eingriff in den Kernbereich der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen steht in eklatantem Widerspruch zum Grundrecht. Das Rechtsgut der Freiheit ist für einmal straffällig Gewordene abgeschafft.


Das Bundesgericht segnete den menschenrechtswidrigen Freiheitsentzug mutlos ab. So kam es im Jahr 2010 zur Verurteilung der Schweiz im Fall Borer durch die EMRK-Richter in Strassburg (Urteil vom 10. 6.2010 / Beschwerde Nr. 22393.06). Daraufhin stellte das Bundesgericht die Rechtswidrigkeit der Haft in solchen Fällen zwar fest. Aber es fällt niemandem auch nur im Traum ein, den unrechtmässig in Haft Behaltenen in die Freiheit zu entlassen. Für das Gericht bleibt einzig entscheidend, dass der Verhaftete eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellt.
Durch eine solche Haltung bricht jeder Rechtsschutz des einzelnen in sich zusammen. [...]

Der Rechtsstaat Schweiz ist schwer beschädigt.
Mit wenigen Ausnahmen stellten sich auch die Rechtswissenschaftler populistisch in den Dienst der Ideologien der Polizei- und Sicherheitsdepartemente. Kaum jemand warnte vor den Folgen dieses Systems; es setzte keine Gegenbewegung ein. Alle standen unter dem Zwang, die als “gemeingefährlich” Taxierten wegzusperren.
Die Medien realisierten rasch, dass die Auflagenzahl und Aufmerksamkeit des Lesers und der Öffentlichkeit besser zu steigern waren, wenn sie den Volkszorn bedienen, der sich gerne an schrecklichen Verbrechen entzündet, durch Darstellung der Täter als Unholde, Sexmonster und Teufel, als wenn sie auf den Abbau der fundamentalen Freiheitsrechte im Rechtsstaat hingewiesen hätten. Erst wenn der einzelne direkt oder ein naher Verwandter oder Freund von ihm von der Strafsucht oder dem Sicherheitsfanatismus der Gesellschaft erfasst wird, realisiert er, welche Schäden diese Raserei anrichtet. Die Medien haben ihr Wächteramt als vierte Staatsgewalt über weite Strecken vernachlässigt und peitschen rücksichtslos auf die Richter ein und nehmen sie in Geiselhaft, sobald ein Rückfall in die Kriminalität ruchbar wird.

Richter, welche nicht drakonisch hart bestrafen oder auf Lebenszeit verwahren, werden als lasch, mutlos oder gar als Mitschuldige angeprangert. Ihre massvollen und mit Augenmass zugemessenen Strafen werden von Journalisten gerne als “Kuscheljustiz” verächtlich gemacht. Bei Rückfalltaten wird sogar versucht, jene, die einem Hafturlaub oder einer (meist bedingten) Entlassung zugestimmt haben, zur Verantwortung zu ziehen wegen fahrlässiger Tötung, falls es dazu gekommen ist.

Diese Schlaglichter auf die heutige Situation des Straf- und Massnahmenrechts zeigen auf, dass zurzeit ein Übergang vom seit Jahrhunderten gefestigten Schuldstrafrecht zum präventiven Wegsperren als Polizeimassnahme zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit stattfindet. Die Öffentlichkeit scheint nicht zu bemerken, dass es sich um einen eigentlichen Paradigmenwechsel handelt. Das Recht fragt nicht mehr: Was hat du getan? Wie schwer wiegt deine Schuld? Aus welchen Motiven hast du deine Tat begangen? Die neue Frage lautet: Wie gefährlich ist dieser Mensch?
Die Antwort muss die Fachperson, die Kennerin der menschlichen Seele geben, der Psychiater. Vor ihm verblasst die einmal real verübte Tat des Verbrechers zur blossen Anlasstat, an die sich sein alles entscheidendes Gutachten eher beiläufig anschliesst. Das hat schwerwiegende Folgen. Wir verlieren aus den Augen, dass sich ein solches Wegschliess-System von jenem einer Diktatur oder eines totalitären Staates nicht mehr grundlegend unterscheidet. Menschen verlieren ihre Freiheit, nicht weil sie etwas getan haben, sondern weil sie [...] in Zukunft etwas tun könnten.
Das ist letztlich “Gesinnungsstrafe”. Das System beraubt sie ihrer Zukunft. Und wir als Volk schlucken das alles, weil es so gut institutionalisiert im Gewand der Wissenschaftlichkeit daherkommt.
Nur weil die Menschen, die in den Gefängnissen und geschlossenen Anstalten auf Vorrat in Haft gehalten und zwangstherapiert werden, keine Stimme haben, funktioniert das System nach aussen hin. Immerhin dringt durch die Gefängnisdirektion und aus deren Umfeld genügend nach draussen, damit jeder verantwortliche Bürger das Unrecht, das diesen Menschen zugefügt wird, wahrnehmen kann.
Aber wen interessiert das schon? Kaum je hat sich eine Gesellschaft um das Unrecht ihrer eigenen Zeit gekümmert, während sie sich immer wieder entschuldigt für das Unrecht vergangener Generationen – ein schwacher Trost für die unter dem System Leidenden.

[Mit diesem Paradigmenwechsel] ist eine neue Stufe der “Expertokratie” erreicht. Gleichzeitig ist es ein Rückfall in überwunden geglaubte Abgründe und Schreckenszeiten. Der Mensch wird wieder vermessen wie vor über einem Jahrhundert von Cesare Lombroso, der nach der Schädelform und der Ausformung von Nase und Stirn den geborenen Verbrecher zu erkennen glaubte. Die Technik erlaubt es jetzt, tiefer in den Menschen zu dringen, mit High-tech unter seine Schädeldecke zu kriechen. Gleichzeitig wird dem Volk vorgegaukelt, die Psychiatrie könne eine zuverlässige Gefährlichkeitsprognose über einen konkreten Menschen abgeben. Sie wird zur exakten Wissenschaft hochstilisiert, um zu rechtfertigen, dass Menschen aufgrund solcher Gutachten ihre Freiheit auf lange Jahre, meist für immer, verlieren können. Gestützt durch Computersysteme werden Checklisten erstellt, und durch pseudowissenschaftliches Brimborium wird exaktes Wissen über zukünftiges Verhalten dieser Probanden vorgetäuscht. Dabei können Prognosen des menschlichen Verhaltens und die darauf fussenden Zwangsmassnahmen immer nur eines sein: ein Blick in die Glaskugel der Wahrsagerin oder menschliche Hybris und kaltes technokratisches Ausschalten des als minderwertig oder mangelhaft erkannten Menschenmaterials mittels der Triage. Wir haben diese Systeme in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts aufs Schaurigste erlebt. Wieder scheinen sich viele nach dieser Scheinsicherheit einer – diesmal nicht reinrassigen, aber wenigstens von gefährlichen, gestörten Persönlichkeiten gesäuberten – Gesellschaft der “Guten” zurückzusehnen.

Das Problem eines solchen Systems besteht nicht darin, dass es immer wieder in Einzelfällen zu belegbaren Justizirrtümern kommen wird. [...] Das Problem ist umfassender: Wir beurteilen nicht mehr die Taten, sondern wir unterziehen die Straftäter einer Selektion mit Blick auf ihr zukünftiges, von Forensikern eingeschätztes Verhalten. Das ist ein Rückfall in überwunden geglaubte Abgründe.
Die Forensiker, die sich anheischig machen, den Rückfall ihrer Klienten in Delinquenz vorauszusehen, sehen nicht einmal ihren eigenen Rückfall in schlimmes ideologisches Denken und Handeln.

Hervorhebungen: Admin