Wege der Erniedrigung
Die Angst vor der Sexualität in der russischen Kultur
Von Michail Schischkin (NZZ Nr. 124/2002, S. 77)

“Essen ist etwas Natürliches, es macht Freude, ist leicht und angenehm und nicht beschämend von Anfang an; beim Geschlechtsverkehr ist alles sowohl ekelerregend wie auch beschämend und schmerzhaft. Nein, das ist nichts Natürliches!” Diese Worte legte Leo Tolstoi Posdnyschew in den Mund, dem Protagonisten seiner “Kreutzersonate”, der seine Frau umgebracht hat und in der Eisenbahn erzählt, wie es dazu gekommen ist. Der Text ist eine Kampfansage an die Natur und ihren Schöpfer, der da gesagt hat, seid fruchtbar und mehret euch. Eine Kriegserklärung an das unaufhaltsam vorwärts strebende Leben.
Das schwierige Verhältnis des grossen russischen Schriftstellers zur Sexualität mag einen westlichen Leser erstaunen, im Grunde ist jedoch die gesamte russische Kultur durchdrungen von einer Sexphobie. Einerseits zittern die männlichen Helden der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts in der Regel vor den Frauen und erweisen sich jeweils in den entscheidenden Momenten als Versager. Anderseits haben die holden Turgenjewschen Mädchen und Frauen, die das Streben nach hohen Idealen den Niederungen der sinnlichen Freuden vorziehen, die Denkmuster und Vorstellungen ganzer Generationen von russischen Leserinnen geprägt.

HASS AUF DEN KÖRPER
Wahre Liebe ist im Raum der klassischen russischen Literatur nicht mit Geschlechtsverkehr vereinbar. Im Text der Texte, das heisst in Puschkins “Eugen Onegin”, lieben Tatjana und Onegin einander, doch körperliche Nähe ist zwischen ihnen nicht möglich. Ein gesundes Mass scheint sich in Russland nicht zu finden. Auf die “Kreutzersonate”, diesen passionierten Aufruf zur Selbsterlösung durch sexuelle Abstinenz, [reagierte] Tolstois Frau Sophia Andrejewna mit einem eigenen Roman, in dem ein reines, nach Seelenheil strebendes weibliches Wesen von einem Mann und dessen sexueller Gier in den Sumpf der fleischlichen Liebe herabgezogen wird. Wäre sie nicht mit dem Verfasser von “Krieg und Frieden” und “Anna Karenina” verheiratet gewesen, so wäre aus ihr vielleicht eine erfolgreiche Romanautorin geworden, doch wie kann sich denn in der Federkunst versuchen wollen, wer den Schreibtisch mit Tolstoi in Person teilt? Ihr auf seine Art bemerkenswertes Buch, das nicht minder von Misstrauen, ja Hass auf die “tierische Geschlechtsvereinigung” geprägt ist, hat nie einen breiten Leserkreis gefunden.
Tolstois Plädoyer für die Enthaltsamkeit, seine Kampfansage an die körperliche Liebe, in der er eine Sünde sah, war nur die Spitze des Eisbergs, darunter verbarg sich ein der gesamten russischen Kultur innewohnender Hass auf den Körper. Das ständige Erwarten des Weltuntergangs, bestärkt durch die endlose Kette der kriegerischen Auseinandersetzungen innerhalb und ausserhalb des Imperiums sowie durch tägliche körperliche Gewalt in Familie und Staat, bildete den Nährboden für die im russischen Bewusstsein tief verwurzelte Abneigung gegenüber dem Sexuellen. Die russische Suche nach dem Heilsweg gedieh in religiösen Sekten, die unerbittlich waren gegen die körperliche Lust. In Europa hätte es wohl kaum zur Bewegung der Skopzen kommen können, die im Russland des 19. Jahrhunderts ein eigenes Phänomen darstellte. Die russischen Bauern verstanden die Beschneidung Jesu Christi als Kastration, sie wollten Christus imitieren, indem sie sich vom Bösen im eigenen Körper befreiten. In der Kastration sahen sie die notwendige Voraussetzung für die Errettung der eigenen Seele.
Das Amputieren der Geschlechtsteile wurde bei den Skopzen zur rituellen Praxis. Es gab zwei Stufen der Entmannung. Mit Bindfaden wurden die Hoden zusammengeschnürt und mit einem glühendheissen Messer abgeschnitten. Doch das war nur die erste Stufe, da damit die Wollust noch nicht besiegt war. Um sich endgültig von der Lust zu befreien, wurde das Glied gleich an der Wurzel weggeschnitten, und um das unkontrollierte Abgehen von Urin durch die Öffnung der Harnröhre zu verhindern, wurde ein Zinnzapfen hineingesteckt. Das Beschneiden der Frauen dem Ideal der Reinheit zuliebe liess eine grössere Vielfalt chirurgischer Eingriffe zu: Die Brustwarzen wurden abgeschnitten oder weggebrannt, oft die Brüste ganz amputiert, die Klitoris herausgeschnitten, die kleinen und grossen Schamlippen entfernt.
Auch staatliche Verfolgungen konnten die Skopzen-Bewegung nicht aufhalten. Sie breitete sich in den zentralen russischen Gouvernements, aber auch bis nach Sibirien und in die Metropolen Moskau und St. Petersburg aus. Im Gegenteil: Dass die zaristische Regierung die Sekte zu unterdrücken versuchte, verlieh dieser die Aura des Märtyrertums. Ihre Anhänger konnten mit Sympathien in praktisch allen Gesellschaftsschichten rechnen.
Was viele ungebildete Russen auf ihre eigene Art auslegten und umsetzten, verstanden die gebildeten Schichten als Anleitung zum Handeln in einem übertragenen Sinn. Die sozialistischen Ideen, denen über so lange Zeit hinweg so viele Russen hingebungsvoll erlagen, schufen im Grunde auch so etwas wie eine religiöse Sekte. Verheissen wurde um den Preis der Selbstaufopferung die Erlangung des Seelenheils im Kampf für eine lichte Zukunft. Auch diese Ideen riefen nach einer Art von Kastration, allerdings keiner chirurgischen, sondern einer geistigen. Der fanatische Terrorist Sergei Netschajew formulierte für die russische Intelligenzia die Geschlechterbeziehung folgendermassen: Ein Revolutionär könne keine Familie haben, er sei mit der Revolution verheiratet. In diesem Sinn ist die gesamte progressive russische Kultur der vorrevolutionären Epoche skopzisch. Dem ausschweifenden Leben der russischen Bourgeoisie wurde die revolutionäre Moral der Selbstverleugnung entgegengehalten.
Sogar jene Weltanschauung in der russischen Kultur, die der Sexualität am offensten gegenüberstand, der Symbolismus des Silbernen Zeitalters um die Jahrhundertwende, liess Erotik nur in Worten gelten. Nimmt man diese Bewegung genauer unter die Lupe, erkennt man dieselbe Abscheu gegen das Tierhafte im Menschen. Das reale Leben dieser Künstlerbohème liess die alte skopzische Moral obsiegen. So bauten zum Beispiel die beiden berühmtesten Ehen des Silbernen Zeitalters, die zwischen dem Schriftstellerpaar Dmitri Mereschkowski und Sinaida Gippius sowie die zwischen dem Dichter Aleksandr Blok und Ljubow Blok, dem Prototyp von Bloks “schöner Dame”, ganz auf einer asexuellen Verbindung auf. Ganz oben in der Hierarchie des Symbolismus stand der Begriff der “ewigen Weiblichkeit”. Ihm lag nicht etwa das Bild der Frau als erotisches Wesen zugrunde, sondern die Vorstellung von einer sich selbst aufopfernden Natur der Frau, die aus dem russischen Slawophilentum übernommen worden war. “Die ewige Weiblichkeit” war das Sinnbild für eine ausschliesslich geistige Vereinigung. Das Hauptthema vieler von Frauen verfasster Bestsellerromane war zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Freitod der Heldin, die lieber stirbt, als mit dem geliebten Mann in den Pfuhl der Lust hinabzusteigen.

DER NEUE MENSCH
Die skopzisch körperverachtende Einstellung hielt mit der Machtergreifung der Kommunisten Einzug in die Staatsideologie. Als Vorbild für die neuen Geschlechterbeziehungen dienten selbstredend Lenin und seine Frau, die Krupskaja. An Lenin war wenig Männliches, an Nadjeschda Krupskaja wenig Feminines – und sie hatten selbstverständlich auch keine Kinder. Etwas vom ersten, was die neue kommunistische Regierung tat, war, die Sprache selbst zu kastrieren: Die Anreden “Herr” und “Frau” wurden abgeschafft und dafür das neutrale “Towarischtsch” Genosse) eingeführt. Zum Symbol für die Geschlechtslosigkeit des “neuen Menschen” wurde die lederne Kommissarsjacke. Der Kommissar hatte die Aufgabe, alle Feinde der Revolution zu beseitigen und für die lichte Zukunft zu sorgen, nicht aber, irgendwelche primären oder sekundären Geschlechtsmerkmale zu haben. Eines der populärsten Revolutionstheaterstücke war die “Optimistische Tragödie” von Wsewolod Wischnewski. Darin hört die den kommunistischen Ideen hingebungsvoll zugetane Kommissarin auf, ein erotisches Wesen zu sein: “Nun, wer noch möchte den Kommissarskörper versuchen?” fragt die Heldin, mit einer Mauserpistole über der Leiche eines Matrosen spielend, der versucht hatte, sie zu verführen. Klar, dass keiner mehr Wünsche anmeldet. Wenn es um die Erlösung der Welt und um das persönliche Seelenheil geht, gibt es kein Geschlecht: Geschlechtslose Matrosen und ihre geschlechtslose Kommissarin ziehen in die Schlacht und fallen, womit ihnen – Grund zum Optimismus – Unsterblichkeit gebührt.
Erst in den sechziger Jahren erwiderte der Regisseur Askoldow auf Wischnewskis Stück mit dem sehr eigenwilligen Film “Die Kommissarin”. Er lieferte so etwas wie die Fortsetzung der “Optimistischen Tragödie”, doch er liess die “eiserne” Kommissarin ihre lederne Jacke ausziehen, ein Kind zur Welt bringen und sie damit zu den universell menschlichen Werten zurückkehren. Der Film war im Westen bekannt, in der Sowjetunion blieb er verboten.
In den dreissiger Jahren, als Europa auf den Krieg zusteuerte, blühte in Deutschland der Kult des gesunden arischen Körpers, ein von patriotischen Müttern gezeugtes zukünftiges Futter für die Kanonen. Auch auf der Leinwand der sowjetischen Künstler und Filmregisseure erschienen Turner und Turnerinnen mit entblössten Körpern. Abermals handelt es sich um eine Form des “kastrierten” Körpers. Der Sport wurde im totalitären Regime der dreissiger Jahre nicht als persönlicher, individuell gestaltbarer Zeitvertreib verstanden, sondern als gesellschaftlicher Drill im Dienste der Weltrevolution. Die an den kommunistischen Feiertagen in strengen Kolonnen zu Tausenden über den Roten Platz marschierenden Athleten waren symbolische Soldaten, die Massensportvorführungen, die geboten wurden, waren eine theatralische Zurschaustellung der Bereitschaft dieser Menschen, ein kollektives Opfer zu bringen.
Was man zu sehen bekam, war eine Parade von Geschöpfen, die einmütig zum Altar schritten und, trotz ihrer Nacktheit, keine Erotik ausstrahlten. Ihre Körper waren zwar entblösst, doch sie schienen keine Genitalien zu haben, die Unterhosen “entsexualisierten” sie. Der deutsche Nationalsozialismus hatte da weniger Schwierigkeiten: Viele Skulpturen und Gemälde zeigten, wenn auch idealisiert, nackte Körper. Der “arische Mensch” mit seiner Potenz zum Kinderkriegen wurde ein Vorzeigeobjekt.
Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der nackte Körper völlig aus den sowjetischen Massenmedien verbannt. Joseph Brodsky schreibt in seinen “Leningrader Erinnerungen”, wie stark in der damaligen puritanischen Atmosphäre die vier Zentimeter entblössten Oberschenkels der jungen Parteidame auf dem Bild “Die Aufnahme im Komsomol”, das damals in fast jeder Schule hing, die Schüler sexuell erregte. Auch ich kann mich daran erinnern, wie eine Photographie in einem Pionierlager uns Knaben in Unruhe versetzte. Darauf war Soja Kosmodemjanskaja zu sehen, eine im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen gefangengenommene und erhängte Partisanin, nach der auch das Pionierlager benannt war: Im Schnee liegt eine junge Frau, der der Strick noch um den Hals liegt und eine Brust aus der Bluse schaut – die andere hatten ihr deutsche Schlächter abgeschnitten.
Die offizielle sowjetische Kultur war durch und durch asexuell. Der Körper und die Freuden der sinnlichen Liebe wurden mit den Verführungskünsten des kapitalistischen Westens in Verbindung gebracht. Auffallend ist auch, dass die antisowjetische Untergrundkultur es – angesichts der Greuel des Systems, das zu kritisieren sie sich zur Aufgabe gemacht hatte – ebenfalls für unmoralisch hielt, die eigene Sinnlichkeit auszuleben. Schalamows oder Solschenizyns Beschreibungen der Lagerliebe rufen im Leser einzig Widerwille und Ekel hervor. Mit der Perestroika eroberte der nackte Körper nach dem Vorbild des Westens die Kinoleinwand in rasantem Tempo. Doch es ist bezeichnend, dass im grössten Teil der neuen russischen Filme Liebesszenen Vergewaltigungen gleichen.

Aus dem Russischen von Franziska Stöcklin
Michail Schischkin lebt als Schriftsteller in Zürich. Im Limmat-Verlag erscheint im August sein Buch “Montreux, Missolunghi, Astapowo. Auf den Spuren von Byron und Tolstoi: Eine literarische Wanderung vom Genfersee ins Berner Oberland”.