Die Edelweisspiraten

“Als Sohn eines Ford-Arbeiters war F. T. in Ehrenfeld geboren und aufgewachsen. [...]
1940 wurde der Dreizehnjährige wegen Befehlsverweigerung unehrenhaft aus der HJ entlassen. Ein Jahr später trat er wieder ein, weil er bei Ford eine Lehre als Werkzeugmacher beginnen wollte. Ohne HJ-Mitgliedschaft war das ausgeschlossen. [...]
‘Die Juristen und Bürokraten sind immer willfährige Diener des Regimes gewesen [...], und sie haben die Fassade eines Scheinrechts aufgerichtet, hinter der [...] eklatantes und offensichtliches Unrecht verborgen [wurde].’
NZZ Nr. 67/2004, S. 71 (“Die Edelweisspiraten”)

Zwei Dinge werden hier angesprochen: Die Arroganz des ideologischen Wahrheitsanspruchs und das Handlangertum der Staatsdiener bei der Durchsetzung dieses Wahrheitsanspruchs.
Was haben diese Dinge mit dem Physiotherapie-Verband zu tun? Oder mit einem Hunde-Club? Oder mit einem Kaninchenzüchter-Verein?
Die Antwort ist einfach: Jeder Club grenzt sich vom Rest der Welt ab, weil er eine “höhere Wahrheit” zu besitzen vermeint.
Der papierlose Dackel ist kein Dackel, auch wenn er noch so schön wedelt, absolut treu ist und dem Besitzer lange Jahre Freude macht. Er existiert offiziell überhaupt nicht. Und ein Kaninchen, das unter Missachtung der Statuten des Kaninchenzüchter-Vereins das Licht der Welt erblickt hat, ist selbstverständlich nur ein Kaninchen zweiter Klasse.
Und ein junger Mensch in den dreissiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, der Jazz liebte und amerikanische und französische Filme den seichten und paternalistischen deutschen Produktionen vorzog, musste damit rechnen, keine Lehrstelle zu bekommen.
Weil er nicht in die “Hitler Jugend” passte ...

Die Gruppe als Hüterin der Wahrheit. Ein wahrhaft demokratischer Gedanke. Eine wahrhaft beruhigende Vorstellung.
Aber leider ist es genau umgekehrt: Eine Gruppe ist immer schafsdumm, manipuliert und einsichtslos.
Bei der öffentlichen Exekution der jugendlichen Dissidenten, die sich den Namen “Edelweisspiraten” gegeben hatten, “drängte sich viel Volk um den Hinrichtungsplatz. Manche erklommen Trümmer zerstörter Häuser oder Laternenpfähle, um nichts zu verpassen”.
Man sieht: Nichts fördert das Wir-Gefühl mehr als die Vernichtung des Andersdenkenden. Nichts bereitet den “Mitgliedern” mehr Lust als die Schande des Abweichlers.

Für mich aber steht fest: Individuen, nicht Gruppen, sind die Lichtbringer des Lebens. Zum Beispiel Oskar Maria Graf, dessen Erinnerungsbuch “Grösstenteils schimpflich” an dieser Stelle wärmstens empfohlen sei. Dieses Buch handelt von der Wahrheit des Gewissens und des Herzens.
Das ist die Wahrheit, die zählt. Paragraphen und Statuten und Standesregeln sollen diejenigen herunterbeten, die sonst nichts haben.
Vergessen wir eines nicht: Wertsysteme kommen und gehen. Die Dissidenten von heute sind die Regenten von morgen.
Die “Schande”, die ich heute erlebe, kann schon morgen zum Triumph einer besseren Wahrheit werden.
Es lebe das papierlose Kaninchen.