Kein Raum für “unislamische” Kultur?
Rücksichtnahme mit problematischen Folgen
Von Beat Stauffer
NZZ Nr. 115/2003, S. 53
Die Terroranschläge in Casablanca vom vergangenen Freitagabend haben mit erschreckender Deutlichkeit die Präsenz radikaler Gruppierungen im vom militanten Islamismus bis anhin einigermassen
verschonten Marokko gezeigt. Auf kulturpolitischer Ebene freilich haben die Islamisten bereits Position bezogen; erst kürzlich lösten ein Zensurfall und ein Gerichtsverfahren gegen junge Rockmusiker
heftige Debatten aus.
Noch vor kurzem sah alles so hoffnungsvoll aus. Dem Elan des jungen Königs Mohammed VI., sein Land sachte zu öffnen und zu modernisieren, schienen auch im Kulturbereich kaum Grenzen gesetzt. Die
[...] Signale, welche aus dem Palast zu vernehmen waren – etwa das auf sein Geheiss ins Leben gerufene Kulturfestival “Mawâzine” in Rabat –, lagen genau auf dieser Linie. Zwar
trübten Zensurmassnahmen gegen ein paar kritische Zeitungen das schöne Bild bereits wenige Monate nach Amtsantritt des jungen Königs. Doch diese liessen sich zur Not der unglücklich agierenden
Koalitionsregierung des Sozialisten Youssoufi in die Schuhe schieben. Und schliesslich ging es dabei um das Tabuthema des Konflikts in der Westsahara, das im Alawitenreich bis heute kaum abweichende Meinungen
verträgt.
Die jüngsten Sanktionen gegen Kulturschaffende lassen sich nun aber mit dem besten Willen nicht mehr auf solche Weise rechtfertigen. Alles weist darauf hin, dass es den Behörden vielmehr um einen
gezielten Präventivschlag gegen allzu westlich orientierte Kulturschaffende ging. Dabei stützten sie sich auf einen Artikel der marokkanischen Verfassung, der mit Gefängnis bestraft, wer –
sinngemäss übersetzt – “einen Muslim in seinem Glauben erschüttert und islamische Werte verhöhnt”. Diese Bestimmung fand aber bis anhin nur selten Anwendung. Dass sie nun
gleich zweimal eingesetzt wurde ist für den Menschenrechtsaktivisten Fouad Abdelmoumni ein erstes Anzeichen für eine ernsthafte Einschränkung des öffentlichen Raums in Marokko.
Der Bannstrahl der Zensoren
Nabil Ayouch gehört zu den bekanntesten und erfolgreichsten Filmschaffenden in Marokko. Seit vier Jahren lebt und arbeitet der in der Banlieue von Paris aufgewachsene Cineast in Casablanca. Seine beiden
Spielfilme “Mektoub” und “Ali Zaoua” verzeichneten 350 000 beziehungsweise 500 000 Eintritte – was für Marokko eine unerhört hohe Zahl darstellt. Zwar befassten sich auch
die erwähnten beiden Filme mit heiklen Themen – etwa den sogenannten Strassenkindern. Doch erst mit seinem jüngsten Film mit dem Titel “Une minute de soleil en moins” hat Ayouch den
Bannstrahl der Zensoren auf sich gezogen. Kurz vor der Präsentation des Films am Filmfestival von Marrakesch letzten Herbst verlangte die dafür zuständige staatliche Kommission die Entfernung von
acht Szenen mit erotischem Inhalt. Ayouch weigerte sich kategorisch, was zur Folge hatte, dass der Film aus dem Festivalprogramm gestrichen wurde.
Einige Wochen später, so berichtet Ayouch in seinem Büro in Casablanca, sei er erneut mit der Zensurkommission in Kontakt getreten, um die Bewilligung zu erhalten, seinen Film in öffentlichen
Kinosälen in Marokko aufführen zu können. Die Kommission zeigte sich erneut unbeugsam und verlangte die Entfernung der acht Einstellungen. Ayouch kam aber nach einigem
Zögern zum Schluss, dass dies den Charakter seines Werks zerstören würde, und blieb bei seiner Weigerung. Gleichzeitig ging er in die Offensive und versuchte, die Zensurierung seines Films publik
zu machen. Erstaunlicherweise gelang es ihm, eine öffentliche Debatte über Kulturpolitik und Zensur auszulösen. Ayouch versuchte gar den Dialog mit den Islamisten und lud Nadia Yassine, die Tochter
des prominenten Islamistenführers Scheich Yassine, und andere prominente Islamisten ein. Diese zeigten daran allerdings kein Interesse.
Dafür umso mehr an einer Kampagne gegen den “pornographischen” Kulturschaffenden. Anfang Januar ritt die islamistische Partei PJD im Parlament eine scharfe Attacke
gegen den angeblich “sittenzersetzenden” Film mit seinen “obszönen” Szenen und verlangte gar die Rückzahlung der staatlichen Subventionen. In islamistischen Blättern wurde das
Thema genüsslich breitgeschlagen und ein konsequentes Durchgreifen gegen Verwestlichung und Dekadenz verlangt.
Die Männlichkeit des Mannes
Nabil Ayouch hat in seinem neusten Film bewusst eines der grössten Tabus der marokkanischen Gesellschaft aufgegriffen, und dies erst noch auf eine für die dortigen Verhältnisse äusserst gewagte
Art: den Umgang mit Sexualität, mit Geschlechterrollen und insbesondere mit dem Thema Homosexualität. Die acht Szenen, welche die Zensoren als inakzeptabel befanden, zeigten denn auch alle Bilder von nackten
männlichen Körpern. Die “Männlichkeit des Mannes”, so folgert Ayouch, dürfe unter keinen Umständen in Frage gestellt werden; Homosexualität sei immer noch ein absolutes Tabu.
Gleichzeitig tue sich aber ein unglaublich tiefer Graben auf zwischen den angeblich “islamischen” Verhaltensnormen und der gelebten Realität. Dazu kommt ein Weiteres: Unerhört ist dabei aus der
Perspektive der Sittenwächter nicht in erster Linie der Umstand, dass ein Transvestit auftritt oder dass zwei Menschen beim Liebesakt gezeigt werden; unerhört ist vor allem, dass dies ein marokkanischer
Regisseur mit einheimischen Schauspielern vorführt. Zwar würden Nacht für Nacht Hunderttausende in Marokko über TV-Kanäle oder gar in Schmuddelkinos krude Sex- und Pornofilme konsumieren, sagt
Ayouch. Da diese aber Importprodukte aus dem dekadenten Europa seien, stelle dies kein grösseres Problem dar. Sexuelles Begehren abseits der offiziell deklarierten Normen hingegen als etwas Eigenes darzustellen,
sei in Marokko bis heute fast undenkbar. Diese “unerträgliche Heuchelei und Doppelmoral” will Nabil Ayouch frontal angehen, indem er seinen Landsleuten einen kruden, aber durchaus realistischen
Ausschnitt aus dem marokkanischen Alltag vorführt.
Unterstützung fand Ayouch zwar sowohl bei der Vereinigung von Filmschaffenden wie auch bei vielen Kulturschaffenden und Intellektuellen. Der Sprecher der Regierung, Nabil Bendabdallah, stellte sich hingegen klar
hinter den Zensurbeschluss und gab zu erkennen, dass alle Filme, welche den marokkanischen Traditionen und dem Islam widersprächen, konsequent verboten würden [...]
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